Den Menschen doch bitte nicht verkennen!

Eine Rezension von Lutz Fiedler

Schädeldecke des 1856 gefundenen Neandertalers mit dem 2000 gefundenen Jochbein (Foto: 
Hans Weingartz)
Schädeldecke des 1856 gefundenen Neandertalers mit dem 2000 gefundenen Jochbein (Foto:
Hans Weingartz)

Auf dem Buchmarkt erscheint zurzeit ein neuer, sehr wohlmeinender Schmöker über den Neandertaler: Rebecca Wragg Sykes „Der verkannte Mensch“ (2022).

Ich habe schon etwas in dem Buch rumgeblättert und an einigen Stellen gelesen. Es fällt schon auf, dass manche Veröffentlichungen, die nicht auf Englisch erschienen oder in englischer Literatur zitiert worden sind, von der Autorin nicht wahrgenommen wurden. Und das Verschwinden des Neandertalers wird mehrfach erwähnt, aber in diesem Zusammenhang nicht ein Verschwinden vom Homo erectus, seinem Vorfahren. Alleine die Tatsache, dass Populationen sich selbst oder durch neue Umweltbedingungen genetisch verändern können, oder auch durch Vermischung Prozesse genetischer Veränderungen in Gang gesetzt werden verbietet, hier vom Verschwinden oder Aussterben zu schreiben.

Außerdem versteht die Autorin Neandertaler als eine andere Gruppe von Menschen, zwar als Menschen, aber doch getrennt von anderen archaischen und modernen Sapienten. Irgendwie ist das doch seltsam, dass solche Vorstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind und seitdem  nicht mehr aus den Köpfen und – trotz allen Wohlwollens – immer wieder thematisiert werden. Dabei sagt doch der simple Menschenverstand, dass hier ein Phantom gehätschelt wird, dessen reale Existenz niemand, auch nicht die moderne Genetik tatsächlich beweisen kann.

So, wie sich das bisher Anthropologen und Archäologen einfach vorstellen, verlief das in der sagenhaft lange dauernden Vergangenheit nicht, weil keine Gemeinschaft auf Jahrhunderte oder Jahrtausende isoliert sein konnte. Irgendwann stießen andere Gruppen auf sie oder sie auf andere. Es gab ja keine Ländergrenzen und Barrieren, die nicht langwährend umgangen werden konnten (und auch von Feliden, Caniden, Antilopidae usw. umgangen wurden).

Europäische und vorderasiatische Neandertaler existierten sowieso gemeinsam obwohl die Donau, das Schwarze Meer und Gebirge zwischen ihnen lagen – gemeinsam mit den gleichen Techniken und damit verbundenem kulturellen Verhalten. Und es ist völlig unvorstellbar, dass die dort nachgewiesenen Neandertaler niemals Kontakte zu Gruppen außerhalb ihrer „Verbreitungsgebietes“ hatten.

Das ist nicht einfach unwahrscheinlich sondern realitätsfern und absolut lebensfremd. Und unvorstellbar ist damit die isolierte genetische Entwicklung einer „Rasse“, nämlich genetisch eigenständiger Menschengruppe namens Neandertaler. Und zwar deswegen nicht, weil der sozusagen erste genetische Neandertaler von einer Homo-erectus-Frau geboren wurde. Sein Vater und seine Mutter haben aber nicht gemerkt, dass er genetisch anders ist. Er wuchs mit anderen Kindern in der Gruppe auf und teilte die übliche Kultur mit Ihnen.

Wenn nun in einer weiteren Ehe auch ein Kind mit genetischen Neandertalermerkmalen geboren wurde, merkte es dort auch niemand. Aber die neuen Gene waren in dieser Gruppe und damit verbundener Population da.

Sie setzten sich über Jahrhundertausende im eurasiatischen Bereich immer mehr durch. Zugleich aber auch die Variante des anatomisch etwas moderneren Menschen à la Steinheim. Auch das hatte seinerzeit niemand feststellen können, weil sie alle dem späten Erectus und seinen individuellen Variationsbreiten außerordentlich ähnlich sahen. Sie waren halt Menschen, „blutsverwandte“ Menschen.

In Afrika dominierten mehr und mehr neandertalerähnliche genetische frühmoderne Menschen; in Europa mehr und mehr der genetische Homo sapiens neanderthalensis.

Trafen Gruppen dieser Menschen aufeinander merkte wirklich niemand, dass Leute unter ihnen waren, die genetisch (oder altmodisch und unpassend ausgedrückt „rassisch“) anders waren. Und deshalb sind in den Höhlen des Vorderen und Mittleren Orients aus der Zeit des Mittelpaläolithikums Gräber vorhanden, die alle zum (Levallois-) Moustérien gehören, aber in denen die Toten mal mehr wie Neandertaler nach unserer Vorstellung aussehen und mal wie die „Protocromagnons“ = „moderne Menschen“ aussehen. So wie sich heute niemand darüber wundert, dass in einer Ehe der erste Junge dunkelhaarig ist und eine längliche Nase hat, der zweite, jüngere Junge aber blond ist und eine Stupsnase hat. Gewisse körperliche Unterschiede wurden und werden als naturgegebene Variationen betrachtet und nicht als Andersartigkeit.

Ich hoffe, man kann nachvollziehen, was dieser Gedankengang bedeutet, nämlich die ganze palä-anthropologische Rassentrennung löst sich damit auf. In Afrika und unter anderen Umweltbedingungen hatten auch die „Anatomisch Modernen Menschen“ deutlich Überaugenwülste und fliehende Stirne. Zum Teil bis heute. In Europa vollzieht sich diese genetische Entwicklung vom mittelpaläolithischen Typus zum modern aussehenden Menschen nach geologischer Chronologie ziemlich plötzlich. Eiszeitliche Umweltbedingungen, neu entwickelte Jagdwaffen und eine begrenzte Anzahl jagdbaren Großwildes in diesem Gebiet könnte einige der Ursachen sein, vielleicht auch eine Krankheit, die für eine genetische Auslese sorgte. Aber es geschah nicht ganz plötzlich, sondern in einer Zeitspanne zwischen 10 und 25 000 Jahren Dauer in einer Überganszeit in der Mitte der letzten Kaltzeit. Als der Denisovatypus in Erscheinung trat.  Seine Gene stehen zwischen beiden Varianten.                            

Aber die Idee eines vermeintlich eigenständigen Denisovas rettet die physischen Anthropologen davor, zugeben zu müssen, dass sie zuvor Stuss verbreitet haben. Denn Denisova ist der Typ des Übergangs. Alle rassisch definierten Populationen des Mittelpaläolithikums sind Gedankenleistungen, Konstrukte, die aus der historischen Entwicklung der Anthropologie und Rassenkunde stammen. Man schaue sich mal gravettienzeitliche Schädel aus den Bestattungen von Brünn an. Überaugenwülste und fliehende Stirne sind durchaus vertreten. Und „Neandertalergene“ sind laut Svante Pääbo auch in heutigen Menschen nachweisbar.

Der Wandel verlief nicht völlig abrupt und vielleicht ist er auch ein Ergebnis der Datierungsmängel, vielleicht auch, weil es bisher wirklich kein einziges Grab aus dem deutlich mehr als 10 000 Jahre dauerndem Aurignacien gibt, dessen Trägerschaft durch „anatomisch moderne Menschen“ bisher also unbewiesen ist. Nur der Schädelteil aus Oasis (Rumänien) ist (ohne kulturelle Beifunde) in die Zeit des Aurignacien datiert worden und soll ein Denisova sein. Die Oasishöhle wird seit eh und je von einem Bach durchflossen und daher mag, wie in anderen Feuchtsedimenten auch, die Datierung ungenau sein. Der Fund stammt also nicht aus einem Grab, sondern aus dem (wahrscheinlich durchmischten) Höhlensediment.

Die Anthropologie ist noch lange nicht am Ende ihrer Weisheit. Noterklärungen retten sie nicht vor der Tatsache, dass ihre als eigenständig existierenden genetischen Gruppen nichts weiter sind, als die nur anders benannten Rassen. Von denen sie eigentlich genau weiß, dass es sie nie geben konnte und auch heute nicht gibt. Sie sind das Konstrukt eines inhumanen und lebensfremden Weltbildes.